NS-Belastete aus der Region Stuttgart
Die Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ (THT) will in zehn regional gestaffelten Bänden das Wissen über den Nationalsozialismus in Baden und Württemberg sowie ausgewählten angrenzenden Gegenden neu hinterfragen. 127 Autor*innen treten an, um dazu eine möglichst faktenbasierte, bewusst quellengestützte NS-Täterforschung im Lande voranzubringen. 28 von ihnen legen mit diesem finalen THT- Band weitere 27 Biografien vor, jetzt aus Stuttgart und der Gegend rund herum.
Denn die regionale NS-Vergangenheit darf nicht schöngeredet oder gar totgeschwiegen werden. Gerade in „postfaktischen“ Zeiten kommt es darauf an, hart an der Sache, aber gleichzeitig entideologisiert und kontextbezogen insbesondere in Archiven nachzuforschen. Dabei müssen neben den Toptätern auch solche NS-Belastete untersucht werden, deren persönliche Schuld zunächst als Marginalie erscheinen mag. Weil aber solche Täter in ihrer großen Masse einen erheblichen Anteil an der Akzeptanz des Unrechtregimes unter der Mehrheit der Deutschen hatten, sind es gerade die Helfershelfer und Trittbrettfahrer aus der zweiten und dritten Reihe, ohne die der Nationalsozialismus heute in seiner ganzen Breite nicht angemessen verstanden werden kann. Die NS-Geschichte muss nicht neu geschrieben, aber im Detail erweitert und nachjustiert werden.
Inhaltsverzeichnis Band 10
7 | Am vorläufigen Ende eines Weges von Wolfgang Proske |
27 | Kurt Alber: „Was hätte er als Fotograf denn Schlimmes machen sollen?“ Von Jörg Alber und Jan Alber und Sarah Kleinmann |
50 | Dr. Rudolf Bilfinger: Schutzbehauptungen. Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik von Astrid Gehrig |
82 | Karl Buck: „Ich bin Nationalsozialist, fanatisch!“ Von Hermann Wenz |
104 | Dr. Friedrich Egen: Karriere „im Osten“ von Markus Roth |
113 | Dr. Karl Epting: Raubkunst und Rassenwahn von Joachim (Joo) Peter |
125 | Dr. Max Eyrich: „Die Fürsorgeerziehung ist das erbbiologische Sieb dieser Jugend“ von Karl-Horst Marquart |
139 | Dr. Willy Frank: Zahnarzt in Auschwitz von Werner Renz |
151 | Prof. Dr. Günther Franz: „Ich war aus Überzeugung Nationalsozialist“ von Wolf-Ingo Seidelmann |
182 | Paul Hausser: Offizier und Apologet der Waffen-SS von Karsten Wilke |
193 | Gottlieb Hering: Laut Himmler „einer der fähigsten Mitarbeiter der Aktion Reinhardt“ von Wolfgang Proske |
208 | Wilhelm Holzwarth: Betriebs- und Volksgemeinschaft in Bietigheim von Christian Hofmann |
233 | Eugen Hund: „Hauptschuldiger“ oder „Versuchskarnickel“? Der Opferdiskurs des Esslinger NSDAP-Kreisleiters von Astrid Gehrig |
258 | Bürgermeister Georg Kraut: Ein exemplarischer Fall von Peter Conzelmann |
274 | Prof. Dr. Friedrich Mauz: T4-Gutachter von Gudrun Silberzahn-Jandt |
286 | Dr. Elmar Michel: Wirtschaftslenker im besetzten Frankreich von Peter Pogundtke |
297 | Ernst Niemann: „Schreckgespenst“ der jüdischen Bevölkerung in Württemberg von Cornelia Rauh |
319 | Hans Olpp: Ein Leben für die SA von Steffen Seischab |
342 | Ferdinand Ostertag: Der Brandstifter von der Bausparkasse von Jochen Faber |
354 | Albert Rapp: „Du sollst Deinen Feind aus aller Seelenkraft hassen…“ von Stefan Klemp |
376 | Oskar Riegraf: „Nach Recht und Gesetz?“ Von Manuel Werner |
386 | Dr. Otto Röhm: „Nur die NSDAP kann unser innig geliebtes Vaterland retten…“ von Christoph Florian |
398 | Prof. Dr. Walter Saleck: Zweifacher Direktor des Städtischen Gesundheitsamts Stuttgart von Roland Müller |
412 | Friedrich Sieburg: Zeitlebens ein Schrittmacher der öffentlichen Meinung von Clemens Klünemann |
423 | Ewald Sternagel: „Ein im auswärtigen Einsatz ganz vorzüglicher Polizeioffizier“ von Astrid Gehrig |
461 | Els Voelter: „Herzlichst – Heil Hitler“. Eine Nationalsozialistin als Unternehmerin von Cornelia Rauh |
483 | Dr. Giselher Wirsing: Worte als Taten von Rainer Jedlitschka |
506 | Dr. Carl Wurster: Im „Notstand, Zwangsarbeiter einzusetzen?“ von Jan Ohnemus |
521 | Auch nach 60 Jahren kein Ende der Arbeit. Interview mit Jens Rommel, Leiter der „Zentralen Stelle“ von Stefan Jehle |
526 | Abkürzungsverzeichnis |
528 | Bildnachweis |
529 | Autorenverzeichnis |
536 | Personenregister |
545 | Ortsregister |
Aus: Kontext Wochenzeitung, Ausgabe 443
Blinde Flecken der NS-Forschung
Manche Projekte beginnen mit großen Plänen und enden kümmerlich, andere starten klein und werden unerwartet größer. Die Buchreihe "Täter, Helfer, Trittbrettfahrer" (THT) über NS-Belastete im heutigen Baden-Württemberg gehört zu letzteren. Als der Sozialwissenschaftler und Lehrer Wolfgang Proske aus Gerstetten bei Heidenheim vor rund zehn Jahren begann, zusammen mit sieben weiteren AutorInnen den ersten Band zusammenzustellen, da ging es nur darum, Personen aus Proskes Heimatregion, der Ostalb, unter die Lupe zu nehmen. Doch dann wurde der 2010 erschienene Band zum Anfangspunkt einer umfangreichen Buchreihe, die in diesem Jahr mit Band zehn – "NS-Belastete aus der Region Stuttgart" – zum Ende gekommen ist.
127 Autorinnen und Autoren verfassten über die Jahre insgesamt 209 biografische Artikel, weitgehend ehrenamtlich – durch die Unterstützung von Sponsoren war lediglich eine symbolische Aufwandsentschädigung möglich. Die meisten, aber nicht alle, sind HistorikerInnen, von diesen wiederum nur wenige im universitären Bereich tätig. Was nichts daran ändert, dass die Texte, obwohl oft populärer geschrieben, durchweg faktenbasiert und quellenorientiert sind, alle Aussagen müssen belegbar sein. Am kommenden Donnerstag, den 26. September, wird nun der Abschlussband im Stadtarchiv Stuttgart vorgestellt.
Auch wenn an Studien zum Nationalsozialismus kein Mangel herrscht, ein vergleichbares Projekt zur Täterforschung in dieser Breite gibt es in Deutschland bislang nicht. Zwar gibt es einige Veröffentlichungen mit ähnlichem Ansatz – etwa den 2009 erschienenen Band "Stuttgarter NS-Täter", herausgegeben von Hermann G. Abmayr, oder "Die Führer der Provinz", 1997 erstmals erschienen und herausgeben von Michael Kissener und Joachim Scholtyseck. Aber "Täter, Helfer, Trittbrettfahrer" geht nicht nur in der bloßen Menge, sondern auch in Bezug auf den untersuchten Personenkreis weiter.
Nicht nur die "Toptäter" im Visier
Unter die Lupe genommen werden nicht nur Spitzenfunktionäre, nicht nur die "Toptäter", so Proske, sondern auch die, "deren persönliche Schuld zunächst als Marginalie erscheinen mag". Doch gerade die "Helfershelfer und Trittbrettfahrer aus der zweiten und dritten Reihe" hätten einen erheblichen Anteil an der Akzeptanz des NS-Regimes gehabt. Ohne sie, ist Proske überzeugt, kann "der Nationalsozialismus heute in seiner ganzen Breite nicht angemessen verstanden werden". Immer wieder kamen dabei auch Pionierstudien heraus.
Täter, Helfer, Trittbrettfahrer
Welcher Personenkreis mit dem Titel der Buchreihe gemeint ist, wird im Vorwort des zweiten Bands so klassifiziert: "Täter sind Personen, die selbstbestimmt und in Übereinstimmung mit der NS-Ideologie Menschen schädigten oder anderen entsprechende Anweisungen gaben. Helfer sind Personen, die fremdbestimmt Täter in ihrem Handeln unterstützten, ohne ihre Anweisungen zu überschreiten oder sie an andere zu delegieren. Trittbrettfahrer sind Personen, die versuchten, von der Schädigung anderer Menschen durch Täter und ihre Helfer persönlich zu profitieren." Dieser breite Ansatz ermöglicht eine Art Mosaik der Gesellschaft der NS-Zeit. Die Darstellungen individueller Motivationen und des Agierens innerhalb gegebener Handlungsspielräume, der verschiedenen Abstufungen der Mitwirkung zeigen dabei immer wieder exemplarisch, wie der Nationalsozialismus funktionieren konnte, wie er auch von Leuten am Laufen gehalten wurde, die seine Ideologie nicht unbedingt verinnerlicht hatten. (os)
Die Breite dieses Ansatzes spiegelt sich auch in den 26 Porträts in THT Nummer 10 wieder. So schreibt etwa die Geschichtsprofessorin Cornelia Rauh über die Unternehmerin Els Voelter, Betriebsführerin der "arisierten" Ideal Steppdeckenfabrik in Stuttgart-Untertürkheim. Sie beleuchtet dabei einen blinden Fleck: "Über Frauen in der Wirtschaft des Nationalsozialismus und ihre Involvierung in deren verbrecherische Seiten" sei, so Rauh, bislang "nichts bekannt". Rainer Jedlitschka schreibt über Giselher Wirsing, einen "Star-Journalisten des Dritten Reichs", der nach dem Krieg als Chefredakteur von "Christ und Welt" Karriere machte (Kontext berichtete). Und Peter Poguntke befasst sich mit dem Juristen Elmar Michel, der in Frankreich Befehle ausführte, "die auf Ausplünderung und Entrechtung der Juden" abzielten. Ein Fall, der zeigt, "wie man als Nazi funktionierte, ohne innerlich zum Nazi zu werden".
Dass es nach dem ersten Band zur Ostalb überhaupt weiter gehen konnte, lag laut Proske an der Initiative eines Autors, der aber nicht genannt werden will. Damit fingen die Herausforderungen erst an. Zum einen die Frage des Verlags: Die ersten beiden Bücher erschienen bei Klemm & Oelschläger, Verlagsleiter Ulrich Klemm habe aber schon früh signalisiert, dass mehr als zwei Bände nicht drin seien. Es folgte für Band drei ein Intermezzo bei Hellmut G. Haasis‘ Verlag Freiheitsbaum, ehe ab Nummer vier mit dem extra für die Reihe gegründeten Kugelberg-Verlag eine dauerhafte Lösung gefunden wurde. Ein Ein-Mann-Verlag, gegründet auch, um unabhängig zu sein.
"Das war ein Sprung ins kalte Wasser", sagt Proske, doch es habe funktioniert. Durch finanzielle Unterstützung verschiedener Sponsoren und Mäzene – von Privatleuten über Stiftungen, Organisationen, Landkreise und Städte bis hin zum baden-württembergischen Wissenschaftsministerium –, die immer nur akzeptiert wurden, wenn sie nicht versuchten, Einfluss auf die Buchreihe zu nehmen, und durch die Unterstützungen der Landeszentrale für politische Bildung, die dem Projekt schon früh mit Rat und Tat zur Seite stand. Durch Unterstützung aus der dem akademischen Bereich – der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette habe sich sehr eingesetzt, aber auch der Heidelberger Geschichtsprofessor Frank Engehausen. Und nicht zuletzt, oder eher, vor allem durch das Engagement der Autorinnen und Autoren, blinde Flecken aufzudecken oder Mythen der Vergangenheit zu dekonstruieren.
"Anders als bei der universitären Forschung steht bei der THT-Reihe das Engagement der Beteiligten im Vordergrund, davon lebt das Projekt. Ohne wäre die Reihe gar nicht zustande gekommen", sagt Proske. Und es scheint, dass dieses Engagement ansteckend ist: Nach Abschluss der Reihe für Baden-Württemberg soll es in Bayern weitergehen. Die Vorbereitungen für den ersten Band – über NS-Belastete aus Nordschwaben – laufen bereits, er soll im nächsten oder übernächsten Jahr herauskommen.
Wirkungen: von Polemik bis Straßenumbenennungen
Dass so ein Projekt nicht nur Freunde hat, ist klar. Noch heute wirkt nach, dass schon bald nach dem Krieg begonnen wurde, die Verantwortung der NS-Verbrechen einer kleinen Gruppe von Verantwortlichen zuzuschieben. "Monstern", sagt Proske, wie Hitler, Himmler oder Eichmann, die quasi wie Naturkatastrophen über Deutschland gekommen seien, und dass nach einer kurzen Entnazifizierungsphase schnell die Rehabilitierung und Wiedereingliederung vieler NS-Täter in die Gesellschaft begann. Ein Forschungsansatz, der die Verantwortung breiter Bevölkerungsschichten in den Blick nimmt, führt da fast zwangsläufig zu Gegenwind.
Widerspruch gab es vor allem bei populären Figuren, etwa im Falle von "Hitlers Lieblingsgeneral" Erwin Rommel (Kontext berichtete), dem Allgäuer Bierbrauer und CDU-Politiker Oskar Farny (Kontext berichtete), dem Reutlinger Schriftsteller Ludwig Finckh oder dem Freiburger Erzbischof Conrad Gröber. Laut Proske "mit viel Getöse und oft knapp an der Grenze zur üblen Nachrede". Es sei, gepaart mit Polemik, immer wieder der Vorwurf der "Substanzlosigkeit" gekommen oder die Forschungsmethodik angezweifelt worden. "Ziel war jedes Mal, den tradierten Status quo zu retten."
Doch mehrfach hatten die Forschungen auch erfreuliche Wirkung. So führte der Text über den SS-Oberscharführer Wilhelm Emmerich dazu, dass dessen Name 2017 von einem Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkrieges aus der Kirche im nordbadischen Tiefenbach entfernt wurde. In Bodnegg bei Ravensburg entschied sich aufgrund des Textes über den ehemaligen Bürgermeister Anton Blaser der Gemeinderat einstimmig, Blasers Porträt aus dem Sitzungssaal zu entfernen und durch einen kritischen Kurzbericht zu ersetzen. Im Falle des ehemaligen Schwäbisch Gmünder Oberbürgermeisters Franz Konrad hat die Stadt Gelder für eine Forschungsarbeit über Konrad und die gesamte Stadtverwaltung gebilligt. Und in Ilshofen wurde ein nach dem Landesbauernführer und SS-Obersturmbannführer Albert Schüle benannter Weg in "Elzhäuser Weg" umbenannt.
"Breit angelegte Entnazifizierungsarbeit"
Durch bürgerschaftliches Engagement entstandene Geschichtsprojekte werden in der akademischen Geschichtswissenschaft mitunter argwöhnisch betrachtet, Zweifel an Wissenschaftlichkeit und Neutraliät geäußert. Im Falle von "Täter, Helfer, Trittbrettfahrer" kam aber auch von dieser Seite viel Lob. Durch die Vielzahl behandelter NS-Biographien bestehe "die Möglichkeit, zumindest einmal Ansätze für eine umfassende Sozial- und Kulturgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ an der Basis zu schaffen", schreibt etwa der Historiker Michael Kitzing in der "Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte" und wünscht sich, dass die Reihe "dazu beiträgt, das Thema Nationalsozialismus auch verstärkt zum Gegenstand im wissenschaftlichen bzw. akademischen Unterricht werden zu lassen". Die renommierte Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, 2018 zusammen mit ihrem Mann Jan mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, nennt THT "eine enorm verdienstvolle Arbeit der 68er Generation von Historikern…, die diese späte, aber breit angelegte und regional verankerte Entnazifizierungsarbeit unter den gut situierten BRD-Bürgern geleistet haben".
Eine Arbeit, die noch lange nicht zu Ende sein muss. Denn in den Archiven lagert noch reichlich Unerschlossenes. "Das ist, vor allem für Lokalhistoriker, noch ein weites Feld", sagt Proske.
Zu Oskar Riegraf (THT 10, S. 376-385):
Schwarzwälder Bote, 4. 11. 2019
Zollern Alb Kurier, 5. 11. 2019
550 Seiten
ISBN 978-3-945893-11-1
23,99 €
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