Der Holocaust als Kern der nationalsozialistischen Herrschaft stellt ein vorher so nie gesehenes Menschheitsverbrechen dar. Er ist und bleibt die alles andere weit überschattende große moralische Hypothek der Deutschen, die in ihrer Mehrheit bis 1945 begeistert mitgemacht haben. Die NSDAP, die von 1919 – 1945 10,2 Millionen Mitglieder besaß und quantitativ die größte Partei war, die es je in Deutschland gegeben hat, bildete zusammen mit der NS-Bewegung aus SA, SS und diversen Unterorganisationen den Kern einer sog. „Volksgemeinschaft“. Vor allem aus diesem Personenkreis, aber auch darüber hinaus waren ca. 500.000 inzwischen immer besser identifizierbare Täter, Helfer und Trittbrettfahrer in den Terror der „Ausmerze“ verwickelt. Bis heute unvorstellbar und kaum je in allen Details rekonstruierbar ist das ganze Ausmaß ihrer Untaten. Konkrete Personen haben mit jedem einzelnen Toten unwiederbringliche Hoffnungen und Träume von Menschen mutwillig zerstört. Wir Nachkommenden sind zunächst frei von dieser Schuld, wenn wir bereit sind, die Schuld unserer Vorfahren angemessen anzuerkennen. Zu unserer Verpflichtung gehört es auch, wachsam zu sein: Jeder Versuch, die Katastrophe im Nachhinein zu ignorieren oder abzustreiten, kleinzureden oder zu instrumentalisieren ist ein nachwirkender letzter Bestandteil der Tat und fällt in die Verantwortung der jeweils Handelnden.
Was eigentlich ist Rassismus?
„Kernübel der Menschheit“ (Imanuel Geiss) ist eine sich ursprünglich auf religiöse Feindschaft gründende Idee, wonach Gläubige bzw. Falsch- oder Ungläubige keine gleichwertigen Menschen seien bzw. gar nicht sein können. Mit dem europäischen Imperialismus im 16./17. Jahrhundert säkularisierte dieser Gedanken zunehmend zur allgemeinen Theorie einer Überhöhung des Eigenen bei gleichzeitiger Diskriminierung des Fremden. Die Vorstellung gipfelte schließlich in der Idee, Menschengruppen hierarchisch nach „Rassen“ sortieren zu können. Vor dem Hintergrund aus-geprägter Herrschaftsinteressen behaupteten weiße Europäer, dass ausgesuchte Merkmale einer körperlichen, ethnischen oder kulturellen Andersartigkeit wie Herkunft, Hautfarbe, Schädelform, Haare, sonstige Körpermerkmale, Sprache, Religion oder Weltanschauung im Interesse des erreichten Zivilisationsgrades eine Einteilung in höher- bzw. minderwertige Menschengruppen erforderlich mache, um danach durch harte Unterscheidung sich selbst an der Spitze zu verorten und um die eigene Kultur vor ungewollter Veränderung zu bewahren. Rassisten beurteilen einen Menschen insofern nie nach seinen individuellen Eigenschaften und Fertigkeiten, sondern immer als bloßen Teil seiner vermeintlich homogenen Herkunft. Der tunesische Soziologe Albert Memmi (1920-2020) definierte: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“
Nationalsozialismus und Weltkrieg
Die Nazis als Rassisten glaubten, „der Deutsche“ sei dem Rest der Menschheit „rassisch überlegen“ und zogen sich wie weiland Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf, indem sie unter sich vereinbarten, zweifelsfrei von einer „arischen Herrenrasse“ abzustammen. „Arier“, das seien Abkömmlinge aus der indogermanischen Sprachfamilie, die sich in etwa seit der Bronzezeit aus dem Gebiet nördlich des Kaukasus u.a. auch nach Europa mit seinem anregend wechselhaften Klima ausgebreitet hätte. Deutsche Nazis als Abkömmlinge dieser Herrenrasse träumten von einer Welt, die (wieder) von „Ariern“ als „Herrenmenschen“ beherrscht würde und in der es nur noch ein absolut notwendiges Minimum sog. „Minderwertiger“ zu Erledigung der tagtäglichen einfachen Arbeiten geben werde. Aktuell wichtigste Voraussetzung zur Durchsetzung dieser Dystopie schien ihnen die Rückabwicklung der 1918 in Deutschland eingeführten Demokratie und eine zunehmend auf den „Führer“ Adolf Hitler (1889-1945) ausgerichtete Diktatur der vermeintlich Wertvollen. Mittel- und langfristig gehe es darüber hinaus um eine entsprechende „rassische Neuordnung“ der Erde, weshalb nach der Machteroberung im Deutschen Reich der verlorene Erste Weltkrieg wieder-aufgenommen und doch noch siegreich zu einem Ende gebracht werden müsse. Weil als Grund für die Kriegsniederlage von den Nazivordenkern ein sog. „Dolchstoß“ in den Rücken der Reichswehr bzw. des Deutschen Reiches insb. durch die Sozialdemokratie und die Juden ausgemacht worden war, müsse die Gesellschaft viel konsequenter als bisher auf die zwangsläufig kommende Revanche vorbereitet werden. Am besten werde die Kriegsvorbereitung durch grundsätzliche Militarisierung der Gesellschaft einerseits und die Unschädlichmachung sämtlicher störender Personen anderer-seits gelingen.
Holocaust
Zunehmend systematisch wurden deshalb nach der Machtübertragung 1933 die „Roten“, also Kommunisten und Sozialdemokraten, darüber hinaus aber grundsätzlich alle hartnäckig Anders-denkenden bzw. scheinbar Andersartigen herabgewürdigt, drangsaliert und teilweise auch eingesperrt, weil sie aus rassistischem Blickwinkel für „wertlos“ gehalten wurden. Später in Phase zwei wurde dann begonnen, diese „Wertlosen“, also neben „unerziehbaren“ politischen Häftlingen auch Behinderte bzw. psychisch Kranke zunehmend systematisch zu ermorden. Quer dazu wurden Juden und alle, die dafür gehalten wurden, durch üble Nachrede, Diskriminierung, Beraubung, Deportation in den „Osten“ und dortige Gettoisierung aus dem gesellschaftlichen Leben entfernt und am Ende massenhaft der sog. „Endlösung“ zugeführt. In diesem Zusammenhang entstand sogar ein bizarrer NS-interner Streit darüber, ob die Todgeweihtem vor ihrem sowieso beschlos-senen Ende noch als Arbeitssklaven maximal ausgepresst werden könnten, um die Kosten ihrer Ermordung nicht der „deutschen Volksgemeinschaft“ aufbürden zu müssen. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde außerdem gemäß einem „Generalplan Ost“ damit begonnen, sog. „Fremdrassige“ (insb. Russen, Ukrainer, Polen, Serben) bis auf einen Rest von benötigten Zwangsarbeiter*innen kosten-günstig zu liquidieren, um für die geplante „Germanisierung“ Osteuropas den benötigten „neuen Lebensraum“ zu schaffen. Somit starben Millionen infolge brachialer Aggression, außerdem durch Sonderkommandos an der Erschießungsgrube, in Vergasungsfabriken, aber auch an Hunger und Entkräftung durch nicht erfüllbare Arbeitszwänge oder einfach durch Vernachlässigung.
Die Nazis ermordeten alles in allem etwa 17 Millionen Menschen, darunter 5,8 Millionen Juden und 8,7 Millionen sowjetische Zivilisten bzw. in ihrer Obhut befindliche Kriegsgefangene. Dazu kommen die Gefallenen des Krieges, die Toten des japanischen Feldzuges durch Südostasien, und nebenbei auf allen sonstigen Kriegsschauplätzen unzählige Zivilisten. Heute ist in der Summe von über 75 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs die Rede, 3,5% der damaligen Weltbevölkerung. Der Zweite Weltkrieg endete übrigens nicht mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai, sondern erst am 2. September 1945 nach dem Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zur Befriedung Japans. Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman (1925-2017) urteilte im Ergebnis, man müsse den Holocaust „als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft“ auffassen. M.a.W.: Wenn die Bedingungen dafür stimmen, könnte sich alles bzw. Teile davon wiederholen. Momentan sieht es danach aus, als böte das Kriegsgeschehen in der Ukraine ein entsprechendes Beispiel. Der Holocaust erscheint auch angesichts des russischen Vorgehens als die Blaupause für zeitgenössischen Genozid bzw. Völkermord, und es ist völlig egal, welche (Schein-)Begründungen drum herum konstruiert werden. Noch einmal: „Kernübel“ innerhalb eines jeden Genozids ist der Rassismus, wem gegenüber auch immer und egal durch wen. Was zählt, sind die Toten, die alle Menschen und damit gleichwertig waren, sowie die Methode ihrer Ermordung, bei der es nach unten zu keine Grenzen zu geben scheint. Dem Rassismus zu widerstehen und ihm entgegenzutreten ist heute wichtigstes kulturelles Anliegen der zivilisierten Menschheit.
(aus: Proske, Wolfgang: Täter Helfer Trittbrettfahrer, Bd. 13: NS-Belastete aus Niederbayern, S. 8ff, dort mit Quellenanmerkungen)