“Täter Helfer Trittbrettfahrer” als Ressource in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Antisemitismus

         Dr. Wolfgang Proske

Die Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ (THT) gibt es jetzt seit 2010. Entstanden ist sie im östlichen Baden-Württemberg, auf der Ostalb. Ursprünglich angedacht für schulische Zwecke sind inzwischen 16 Bände (von geplanten 20) entstanden, in denen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Archiven NS-Belastete im süddeutschen Raum untersucht werden, also für das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg und Bayern.

Geordnet nach Regionen hinterfragen bisher mehr als 250 Autor:innen unterschiedlicher Fächer und Denkrichtungen quellenorientiert und faktenbasiert das Wissen über den Nationalsozialismus. Insbesondere interessieren uns lokal hervorgetretene Nazis, die inzwischen schon wieder (fast) vergessen sind.

Was heißt „Täter Helfer Trittbrettfahrer? Das sind unsere Ausgangshypothesen:

Täter sind Personen, die selbstbestimmt und in Übereinstimmung mit der NS-Ideologie Menschen schädigten oder anderen entsprechende Anweisungen gaben.

Helfer sind Personen, die fremdbestimmt Täter in ihrem Handeln unterstützten, ohne ihre Anweisungen zu überschreiten oder sie an andere zu delegieren.

Trittbrettfahrer sind Personen, die versuchten, von der Schädigung anderer Menschen durch Täter und ihre Helfer persönlich zu profitieren.

Weil angesichts der Entstehung einer Buchreihe kein Verlag bereit und in der Lage war, dieses Vorhaben in seinem ganzen Umfang zu tragen, habe ich 2014 den Kugelberg Verlag begründet, der inzwischen als Fachverlag für historische Sozialforschung auch darüber hinaus tätig ist, z.B. mit einer ersten Untersuchung über die Gestapo in Augsburg, verfasst von Dr. Hubert Seliger oder ab Frühjahr 2024 mit einem Lexikon über die Kreisleiter der NSDAP in Baden, Württemberg-Hohenzollern und dem besetzten Elsass.

Das Autorenprojekt „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ möchte möglichst vielen Täter:innen ein Gesicht geben! Durch Recherche im Bundesarchiv und in Staatsarchiven portraitieren wir am liebsten solche, die als Nazis nur in zweiter oder dritter Reihe standen und deshalb wenig bekannt sind. Wir ordnen diese Leute im Gesamtzusammenhang ein und fragen nach Verbindendem. Ziel ist also, Täter, (Helfers)helfer und Trittbrettfahrer aus ihrer Interessenlage, ihrer Umgebung sowie dem Kontext der übergeordneten Gesichtspunkte heraus zu erklären.

Ein wichtiges Hilfsmittel dabei ist die „Skala der NS-Belastung“. Sie hilft in ihrer Offenheit dem Betrachter, selbständig NS-nahe Personen nach eigener Wahrnehmung im Gesamtzusammenhang der NS-Verbrechen einzuordnen. Sie hilft auch, unsere Einschätzung zu verstehen, dass wir heute von über einer Million NS-Belasteten auszugehen haben, d.h. von wenigen Toptätern, aber nach unten zu immer mehr „kleinen Fischen“.

Genau das katapultiert uns in die politische Gegenwart und macht uns gelegentlich zum Ziel wütender Angriffe von Populisten, Rechtsextremen und Ultrakonservativen. Diese Angriffe erfolgen nicht entsprechend den Regeln der Wissenschaftscommunity, sondern, ich sag mal, „von hinten rum“, meist kaum an der Sache, sondern an fixen Ideen der Angreifenden orientiert, die uns im Übrigen gerne alles Mögliche unterstellen, weil sie THT nur in Umrissen oder aus zweiter und dritter Hand kennen. Zu diskutieren gab und gibt es da wenig, weil fast nie ein Diskurs gesucht wird, sondern es darum geht, uns lächerlich zu machen, vermeintlich final zu widerlegen oder nach Möglichkeit öffentlich kaltzustellen. Sie ahnen es wahrscheinlich schon: so etwas läuft neben bewusst gestreuten Fake News am besten über persönliche Diffamierung.

Manche Artikel in THT sind besser, andere weniger gut geraten. Angesichts der Vielfalt der Autor:innen versteht es sich das von selbst, zumal ich als Herausgeber vor allem Einfluss auf Formalia nehme, auf das Erscheinungsbild der Veröffentlichung, nur selten aber auf inhaltliche Aussagen, vor allem dann nicht, wenn sie gut begründet sind. Soweit die finanziellen Mittel es zulassen, werden Autorentreffen veranstaltet. Bisher sechs Mal haben interessierte Autorinnen und Autoren die Vernetzung mit Gleichgesinnten und die interne Beratung gesucht.

Als Herausgeber geht es mir aber nach außen hin nicht um abgehobene Diskussionen innerhalb kleiner Zirkel, sondern um nützliche Information, in der Täterforschung, aber wegen der Nachfragen aus der Leserschaft auch in der Heimatgeschichte. In den Jahrzehnten unmittelbar nach 1945 gab es in Sachen „Drittes Reich“ in unzähligen Darstellungen viel naive Ahnungslosigkeit, mit der auf das Ungeheuerliche der NS-Verbrechen reagiert wurde. Diese Unterlagen existieren gerade in Stadt- und Kreisarchiven bis heute, oft unkommentiert, weil sonst nichts vorliegt. Mit THT wird jetzt beansprucht, aus der Vogelperspektive der Täterforschung heraus sowohl das Beschönigend-Fragmentarische als auch die Flutung mit oft irrelevantem Kleinklein ohne roten Faden mehr und mehr zu vermeiden.

Was unsere Leser:innen betrifft: Von Anfang an traf THT auf ein Publikum, das sich eher der heimatlichen Region und weniger der Wissenschaft bzw. der Täterforschung zugetan fühlt. Wir akzeptieren das und kümmern uns damit um ein heute wenig beachtetes Leser:innenspektrum. Unsere oft exklusive Rolle besteht darin, dieses Publikum mit neuen Erkenntnissen zu konfrontieren. Umso besser gelingt das, wo die Lokalpresse berichtet oder wo Veranstaltungen durchgeführt werden.

Was heißt das konkret? THT spielt eine Rolle gegen unwissenschaftliche Behauptungen bzw. gegen die Verfechter reaktionärer Gesellschaftsmodelle. Als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sorgen wir Autor:innen uns bewusst um die weltweit zu beobachtende Rechtsentwicklung, gerade auch im deutschsprachigen Raum und oft außerhalb der städtischen Metropolen. Auch wenn es inzwischen in THT nicht mehr um schulische Zwecke geht, bleibt ein pädagogischer Boden, der beitragen möchte zu einer aufgeklärten Sicht der Welt.

Krude Ablenkungen wie z.B. die, dass der Nationalsozialismus nur ein „Vogelschiss“ gewesen sei, können so in begründeter und empörter Aversion zum Bestandteil des „Nie wieder!“ werden.

Wir wollen uns bewusst angesichts des Menschheitsverbrechens Nationalsozialismus nicht nur im akademischen Elfenbeinturm bewegen, sondern wir sorgen mit Veranstaltungen, Zeitungsberichten und in Zusammenarbeit etwa mit Initiativen wie „Demokratie leben!“ für freiheitlich-demokratisches Engagement in der Region. Mancherorts wird diese Arbeit geschätzt und von Kommunen, Landkreisen und Bezirken auch finanziell unterstützt. Mancherorts sind es Geschichtsinitiativen oder Heimatvereine, die uns gezielt zu Vorträgen anfordern bzw. Hinweise geben.

Unter dem Druck der politischen Verschiebungen unserer Zeit und mit Blick auf die 2024 einsetzenden Massendemonstrationen wird THT so zur Ressource in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Antisemitismus bzw. im Kampf um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es liegt in dieser Logik, dass mancher Autor inzwischen zum Redner oder sonstigen Aktivisten entsprechender Aktionen wurde. Es gehört auch in dieses Selbstverständnis, dass wir in den bayerischen Bänden gezielt dazu aufrufen, die letzten noch lebenden NS-Verfolgten aus der Ukraine, denen es durch die Kriegsfolgen alles andere als gut geht, finanziell zu unterstützen. Man kann es vielleicht so zusammenfassen: THT will über wissenschaftliche Forschung hinaus aktiver Bestandteil der Erinnerungspolitik sein.

 

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Täter Helfer Trittbrettfahrer: NS-Belastete aus Süddeutschland

Der Holocaust als Kern der nationalsozialistischen Herrschaft stellt ein vorher so nie gesehenes Menschheitsverbrechen dar. Er ist und bleibt die alles andere weit überschattende große moralische Hypothek der Deutschen, die in ihrer Mehrheit bis 1945 begeistert mitgemacht haben. Die NSDAP, die von 1919 – 1945 10,2 Millionen Mitglieder besaß und quantitativ die größte Partei war, die es je in Deutschland gegeben hat, bildete zusammen mit der NS-Bewegung aus SA, SS und diversen Unterorganisationen den Kern einer sog. „Volksgemeinschaft“. Vor allem aus diesem Personenkreis, aber auch darüber hinaus waren wohl mehr als eine Million inzwischen immer besser identifizierbare Täter, Helfer und Trittbrettfahrer in den Terror der „Ausmerze“ verwickelt. Bis heute unvorstellbar und kaum je in allen Details rekonstruierbar ist das ganze Ausmaß ihrer Untaten. Konkrete Personen haben mit jedem einzelnen Toten unwiederbringliche Hoffnungen und Träume von Menschen mutwillig zerstört. Wir Nachkommenden sind zunächst frei von dieser Schuld, wenn wir bereit sind, die Schuld unserer Vorfahren angemessen anzuerkennen. Zu unserer Verpflichtung gehört es auch, wachsam zu sein: Jeder Versuch, die Katastrophe im Nachhinein zu ignorieren oder abzustreiten, kleinzureden oder zu instrumentalisieren ist ein nachwirkender letzter Bestandteil der Tat und fällt in die Verantwortung der jeweils Handelnden.

Was eigentlich ist Rassismus?

„Kernübel der Menschheit“ (Imanuel Geiss) ist eine sich ursprünglich auf religiöse Feindschaft gründende Idee, wonach Gläubige bzw. Falsch- oder Ungläubige keine  gleichwertigen Menschen seien bzw. gar nicht sein können. Mit dem europäischen Imperialismus im 16./17. Jahrhundert säkularisierte dieser Gedanken zunehmend zur allgemeinen Theorie einer Überhöhung des Eigenen bei gleichzeitiger Diskriminierung des Fremden. Die Vorstellung gipfelte schließlich in der Idee, Menschengruppen hierarchisch nach „Rassen“ sortieren zu können. Vor dem Hintergrund aus-geprägter Herrschaftsinteressen behaupteten weiße Europäer, dass ausgesuchte Merkmale einer körperlichen, ethnischen oder kulturellen Andersartigkeit wie Herkunft, Hautfarbe, Schädelform, Haare, sonstige Körpermerkmale, Sprache, Religion oder Weltanschauung im Interesse des erreichten Zivilisationsgrades eine Einteilung in höher- bzw. minderwertige Menschengruppen erforderlich mache, um danach durch harte Unterscheidung sich selbst an der Spitze zu verorten und um die eigene Kultur vor ungewollter Veränderung zu bewahren. Rassisten beurteilen einen Menschen insofern nie nach seinen individuellen Eigenschaften und Fertigkeiten, sondern immer als bloßen Teil seiner vermeintlich homogenen Herkunft. Der tunesische Soziologe Albert Memmi (1920-2020) definierte: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“

Nationalsozialismus und Weltkrieg

Die Nazis als Rassisten glaubten, „der Deutsche“ sei dem Rest der Menschheit „rassisch überlegen“ und zogen sich wie weiland Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf, indem sie unter sich vereinbarten, zweifelsfrei von einer „arischen Herrenrasse“ abzustammen. „Arier“, das seien Abkömmlinge aus der indogermanischen Sprachfamilie, die sich in etwa seit der Bronzezeit aus dem Gebiet nördlich des Kaukasus u.a. auch nach Europa mit seinem anregend wechselhaften Klima ausgebreitet hätte. Deutsche Nazis als Abkömmlinge dieser Herrenrasse träumten von einer Welt, die (wieder) von „Ariern“ als „Herrenmenschen“ beherrscht würde und in der es nur noch ein absolut notwendiges Minimum sog. „Minderwertiger“ zu Erledigung der tagtäglichen einfachen Arbeiten geben werde. Aktuell wichtigste Voraussetzung zur Durchsetzung dieser Dystopie schien ihnen die Rückabwicklung der 1918 in Deutschland eingeführten Demokratie und eine zunehmend auf den „Führer“ Adolf Hitler (1889-1945) ausgerichtete Diktatur der vermeintlich Wertvollen. Mittel- und langfristig gehe es darüber hinaus um eine entsprechende „rassische Neuordnung“ der Erde, weshalb nach der Machteroberung im Deutschen Reich der verlorene Erste Weltkrieg wieder-aufgenommen und doch noch siegreich zu einem Ende gebracht werden müsse. Weil als Grund für die Kriegsniederlage von den Nazivordenkern ein sog. „Dolchstoß“ in den Rücken der Reichswehr bzw. des Deutschen Reiches insb. durch die Sozialdemokratie und die Juden ausgemacht worden war, müsse die Gesellschaft viel konsequenter als bisher auf die zwangsläufig kommende Revanche vorbereitet werden. Am besten werde die Kriegsvorbereitung durch grundsätzliche Militarisierung der Gesellschaft einerseits und die Unschädlichmachung sämtlicher störender Personen anderer-seits gelingen.

Holocaust

Zunehmend systematisch wurden deshalb nach der Machtübertragung 1933 die „Roten“, also Kommunisten und Sozialdemokraten, darüber hinaus aber grundsätzlich alle hartnäckig Anders-denkenden bzw. scheinbar Andersartigen herabgewürdigt, drangsaliert und teilweise auch eingesperrt, weil sie aus rassistischem Blickwinkel für „wertlos“ gehalten wurden. Später in Phase zwei wurde dann begonnen, diese „Wertlosen“, also neben „unerziehbaren“ politischen Häftlingen auch Behinderte bzw. psychisch Kranke zunehmend systematisch zu ermorden. Quer dazu wurden Juden und alle, die dafür gehalten wurden, durch üble Nachrede, Diskriminierung, Beraubung, Deportation in den „Osten“ und dortige Gettoisierung aus dem gesellschaftlichen Leben entfernt und am Ende massenhaft der sog. „Endlösung“ zugeführt. In diesem Zusammenhang entstand sogar ein bizarrer NS-interner Streit darüber, ob die Todgeweihtem vor ihrem sowieso beschlos-senen Ende noch als Arbeitssklaven maximal ausgepresst werden könnten, um die Kosten ihrer Ermordung nicht der „deutschen Volksgemeinschaft“ aufbürden zu müssen. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde außerdem gemäß einem „Generalplan Ost“ damit begonnen, sog. „Fremdrassige“ (insb. Russen, Ukrainer, Polen, Serben) bis auf einen Rest von benötigten Zwangsarbeiter*innen kosten-günstig zu liquidieren, um für die geplante „Germanisierung“ Osteuropas den benötigten „neuen Lebensraum“ zu schaffen. Somit starben Millionen infolge brachialer Aggression, außerdem durch Sonderkommandos an der Erschießungsgrube, in Vergasungsfabriken, aber auch an Hunger und Entkräftung durch nicht erfüllbare Arbeitszwänge oder einfach durch Vernachlässigung.

Die Nazis ermordeten alles in allem etwa 17 Millionen Menschen, darunter 5,8 Millionen Juden und 8,7 Millionen sowjetische Zivilisten bzw. in ihrer Obhut befindliche Kriegsgefangene. Dazu kommen die Gefallenen des Krieges, die Toten des japanischen Feldzuges durch Südostasien, und nebenbei auf allen sonstigen Kriegsschauplätzen unzählige Zivilisten. Heute ist in der Summe von über 75 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs die Rede, 3,5% der damaligen Weltbevölkerung. Der Zweite Weltkrieg endete übrigens nicht mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai, sondern erst am 2. September 1945 nach dem Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zur Befriedung Japans. Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman (1925-2017) urteilte im Ergebnis, man müsse den Holocaust „als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft“ auffassen. M.a.W.: Wenn die Bedingungen dafür stimmen, könnte sich alles bzw. Teile davon wiederholen. Momentan sieht es danach aus, als böte das Kriegsgeschehen in der Ukraine ein entsprechendes Beispiel. Der Holocaust erscheint auch angesichts des russischen Vorgehens als die Blaupause für zeitgenössischen Genozid bzw. Völkermord, und es ist völlig egal, welche (Schein-)Begründungen drum herum konstruiert werden. Noch einmal: „Kernübel“ innerhalb eines jeden Genozids ist der Rassismus, wem gegenüber auch immer und egal durch wen. Was zählt, sind die Toten, die alle Menschen und damit gleichwertig waren, sowie die Methode ihrer Ermordung, bei der es nach unten zu keine Grenzen zu geben scheint. Dem Rassismus zu widerstehen und ihm entgegenzutreten ist heute wichtigstes kulturelles Anliegen der zivilisierten Menschheit.

 

(aus: Proske, Wolfgang: Täter Helfer Trittbrettfahrer, Bd. 13: NS-Belastete aus Niederbayern, S. 8ff, dort mit Quellenanmerkungen)