Dr. Wolfgang Proske: Am vorläufigen Ende eines Weges

 

(Vorwort zu: Täter Helfer Trittbrettfahrer – Band 10)

Es ist geschafft: Mit dem vorliegenden zehnten Band über NS-Belastete aus Stuttgart und die Landkreise rund um die Landeshauptstadt ist die Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ (THT) für das heutige Baden-Württemberg abgeschlossen. Damit haben seit 2010 insgesamt 127 Autorinnen und Autoren ihr Mammutwerk vollbracht und in 209 Artikeln NS-Belastete aus allen Regionen des Landes einschlägig untersucht. Als Herausgeber bin ich Ihnen zu Dank und Anerkennung verpflichtet.1

Wer sich an diesem Projekt beteiligte, zeigte damit Haltung und Wagemut. Offiziell existiert nach all den Naziverbrechen zwar bis heute ein grundsätzlicher antifaschistischer Konsens. Doch mit dem zeitlichen Abstand zum „Dritten Reich“ und unter den Bedingungen einer zunehmend nach rechts tendierenden Mitte2 bröckelt diese Einigkeit, gerade im Detail. Es ist keineswegs unumstritten, auch die regionale Ebene des NS-Systems in den analysierenden Blick zu nehmen, und das auch noch personenbezogen! NS-Täterforscher gelten, das bleibt als Erfahrung, trotz allem auch noch im 21. Jahrhundert mehr oder weniger als „Nestbeschmutzer“, gerade wenn sie vor Ort bekannt sind, sich in ihrer Arbeit bewusst demokratisch positionieren und dann auch noch mit neuen, bisher kaum bekannten Ergebnissen aufwarten können. Vorhaltungen liegen offenbar umso näher, je massiver die bisherigen Versäumnisse in der Aufarbeitung sind. Und was bildet ihr euch überhaupt ein, wer ihr seid: Hinter dem Projekt THT stand bzw. steht keine tragende, durch ihr Renommee vor dem „gesunden Volksempfinden“ schützende Institution. Und schließlich kommen „diese Büchle“ auch noch aus der Provinz und „vo dr Alb raa“!3 Da konnten Skepsis und ungläubiges Staunen, aber auch Neid und Spott nicht ausbleiben. Ich danke den Autor*innen also dafür, dass sie die Gegenwinde ausgehalten haben. Und ich danke unseren Leser*innen für Ihre Kaufentscheidung, denn der kommerzielle Erfolg unserer Bücher ist eine entscheidende Voraussetzung, um solch eine Buchreihe überhaupt zu ihrem vorläufigen Ende bringen zu können.

In THT 1 fehlte in der ersten Auflage noch der Hinweis „erster Band“. Denn zu Folgebänden kam es erst auf Initiative eines hier ungenannt bleiben wollenden Autoren. Dr. Ulrich Klemm aus Ulm, der dankenswerterweise die Bände THT 1 und THT 2 verlegte, machte rasch klar, dass mehr als zwei Bände im Verlag Klemm & Oelschläger nicht drin seien. So war es schließlich Hellmut G. Haasis (Reutlingen), der dem Band THT 3 übergangsweise in seinem Verlag Freiheitsbaum Asyl gewährte, verbunden mit dem Appell, ab THT 4 einen eigenen Verlag zu begründen. Nachdem so der Kugelberg Verlag in die Welt gehoben worden war, musste ich aus dem Stand heraus eine Buchreihe managen und bei kontinuierlich steigenden Kosten solide finanzieren, und das anfangs auch noch im Nebenjob. Das alles war herausfordernd und ist nur mit Glück gelungen. Hierfür bin ich allen Mutmachern und Förderern zu Dank verpflichtet. Vor allem ohne die Zusage von Veit und Uli Feger (Ehingen), im Notfall „einzuspringen“, hätte ich den Sprung ins kalte Wasser nicht wagen können. Viele Autorinnen und Autoren ließen sich begeistern, haben ehrenamtlich ihr Wissen eingebracht und so das Projekt THT in dieser Breite begründet. Die Mäzene und Sponsoren haben es flankierend ermöglicht, den Autoren für jeden akzeptierten Artikel eine wenigstens symbolische Aufwandsentschädigung zukommen zu lassen. Als sehr hilfreich empfanden wir, dass uns die Landeszentrale für politische Bildung, vertreten durch Sibylle Thelen, schon frühzeitig unterstützte, ebenso wie 17 Landkreise und neun Städte, dazu das Regierungspräsidium Stuttgart über das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, drei Stiftungen, mehrere Organisationen und Vereinigungen, viele Kreis- und Stadtarchive im Land sowie zahllose Gedenkarbeiterinnen und -arbeiter.

Hilfen wurden nur akzeptiert, wenn sie keinen lenkenden Einfluss auf die Inhalte unserer Buchreihe zu nehmen versuchten. Denn inhaltlich galt es, verengende Wahrnehmungsmuster zu überwinden und in praktiziertem Pluralismus Stimmen aus unterschiedlichen Richtungen ebenso wie aus unterschiedlichen Milieus zuzulassen. Unter dieser Voraussetzung haben wir losgelegt, um dann am konkreten Beispiel über Qualitätsmaßstäbe zu kommunizieren und sie für alles Kommende genauer zu justieren. Die Auswahl von NS-Belasteten unterlag in allen Bänden keiner Systematik, sondern ergab sich aus den Vorschlägen der gewonnenen Autorinnen und Autoren, vor allem auch aus ihren freien Kapazitäten und ihrem Entgegenkommen, lediglich in den Umrissen und einigen formalen Aspekten gelenkt vom Herausgeber. Das THT-Projekt entstand aus beständigem „learning by doing“, vertieft durch vier Autorenseminare in Gerstetten, Lindau, Bad Urach und Rastatt. Schnell kristallisierte sich heraus, dass THT quellenorientiert und faktenbasiert zu arbeiten habe, sämtliche Aussagen belegbar sein müssten und dass beschönigende Sichtweisen bis hin zu rechtsextremer Legendenbildung in THT nichts zu suchen hätten. Letztlich gearbeitet werden konnte nur über solche Personen, zu denen in den Archiven hinreichende Quellen aufgefunden wurden. Manchmal war auch nur Literaturarbeit möglich, weil der darüber hinausgehende Aufwand nicht zu leisten war.

Mit Blick auf die Quellenlage verfolgten wir von Anfang an einen biografischen Ansatz, wie er 2009 durch die „Stuttgarter NS-Täter“, herausgegeben von Hermann G. Abmayr sowie die „Führer der Provinz“, herausgegeben 1997 von den Professoren Michael Kißener und Joachim Scholtyseck, vorgeschlagen wurde.4 Unter Berücksichtigung von „Goldhagen-Debatte“5 und Wehrmachtsausstellung6 waren die Täter und ihre Helfershelfer demnach „lauter pflichtbewußte Leute“ (Ulrich Renz) bzw. „ganz normale Männer“ (Christopher Browning). In einer „Situation, die autoritär strukturiert und ideologisch aufgeladen“ war, „homogenisierten“ sie in den Worten von Harald Welzer über das „Wir-Gefühl“ zur „Gruppe“.7 Vor einer de facto unverstandenen Niederlage im Ersten Weltkrieg, der als erzwungen empfundenen Demokratisierung in der Weimarer Republik und der gleichzeitigen ökonomischen Krise verstrickten sie sich immer folgenreicher in Militarismus, völkischen Ideen und schließlich den Nationalsozialismus. Nur bestürzend wenige Zeitgenossen zeigten in dieser Lage wehrhaftes Resistenzvermögen, d.h. belastbare Widerstandsfähigkeit gegen totalitäre Eingebungen, gegen asoziale Verfolgungspolitik bzw. gegen das durchorganisierte Unrechtsregime an sich. Insofern war das weitere Geschehen in Deutschland vorprogrammiert: „Wegsehen, Dulden, Akzeptieren, Mittun und Aktivwerden sind […] Stadien auf einem Kontinuum der Veränderung von Verhältnisnormen.“ Harald Welzer hat so den entscheidenden „Prozess der inneren Korruption“ umrissen, durch den sich der gesamte soziale „normative Referenzrahmen“ des Einzelnen nach rechts und ins Autoritäre verschob.8

NS-Täter hatten Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume beim Mitmachen bzw. auch beim Sich-Verweigern. In allem, was sie taten, waren sie weitgehend selbstverantwortlich, denn die Machthaber haben sich eher für das Große und Ganze interessiert und erst im Nachhinein einzelne sanktioniert. Wir Autoren haben uns bewusst dafür entschieden, bestimmte Personen dem Vergessen zu entreißen und wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Dabei wollten die meisten von uns über die Buchveröffentlichung hinaus „cum ira et studio“9 eingreifen in die lokale politische Aufklärung. Auch das gab dem Projekt THT eine ganz typische Eigendynamik über „mainstream“ und „political correctness“ hinaus.

Die wichtigen Quellen zum Lokalgeschehen im Nationalsozialismus sind alles in allem viel seltener durch Kriegseinwirkung verbrannt und vernichtet worden als oft angenommen. Irgendetwas hat in oft völlig unvermuteten Zusammenhängen fast immer gleichsam im Dornröschenschlaf vor allem im Bundesarchiv und in den Staatsarchiven überdauert. Diese Quellen sind sicher verwahrt und beschützt durch engagierte Archivar*innen, müssen allerdings jetzt nach dem Ende der Sperrfristen meist noch ins öffentliche Bewusstsein gehoben werden. Unsere wichtigste Aufgabe bestand deshalb darin, nach solchen Dokumenten zu fahnden, sie dann wissenschaftlich zu befragen und schließlich die gefundenen Fakten wahrnehmbar auf den Tisch zu legen: Was wissen wir sicher vom lokalen Geschehen in Nazideutschland? Was haben ausgewählte Täter und ihre Helfershelfer nachweislich auf dem Kerbholz? Wurde ihr Handeln je aufgearbeitet oder wurde lediglich unter den Teppich gekehrt und anschließend vergessen? Und wie wurden bzw. werden NS-Forschungsergebnisse heute vor Ort verarbeitet und verstanden? Wie ist das mit der unter Sozialforschern allenthalben beklagten Geschichtsvergessenheit mancherorts? Was steckt dahinter?

Für unsere Arbeit haben sich bemerkenswert viele ältere Menschen interessiert, in deren jungen Jahren die hinreichende Aufarbeitung der NS-Zeit versäumt wurde. Sie waren dankbar, dass noch zu ihren Lebzeiten in den oft vertuschten Fällen versucht wurde, die oft übermächtige traditionelle Geschichtsklitterung zu überwinden. In teils erregten Disputen ist es insofern auch mit ihrer Hilfe gelungen, profunde Beiträge zur politischen Bildung und zur Förderung von rechtsstaatlichem Denken und Handeln zu leisten: in Meßkirch, in Bodnegg, in Ilshofen, in Crailsheim, um nur einige Brennpunkte der letzten Monate aufzuzählen. Nicht selten waren bei THT-Veranstaltungen über hundert Menschen versammelt: neben den genannten Orten auch in Waldshut-Tiengen und in Ravensburg, in Freiburg und in Biberach, in Leutkirch und in Karlsruhe. In Öhringen mussten einige, weil sie zu spät zur Buchvorstellung gekommen waren, wegen Überfüllung des Saales abgewiesen werden. All das verdeutlicht, wie sehr das THT-Anliegen in der Luft lag bzw. liegt und wie nötig es ist, so etwas auch künftig und an möglichst vielen Orten weiterhin zu versuchen. Die gute Resonanz vor allem im Süden des Landes half darüber hinweg, wenn vor allem in Nordwürttemberg manchmal Stühle im Vortragsraum unbesetzt geblieben sind.

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1 Das Projekt wird inzwischen in Bayern fortgesetzt, wo heute, am 23.9.2021, nach Band 11: NS-Belastete aus Nordschwaben gerade der Band 12: NS-Belastete aus dem Allgäu vorbereitet wird.

2 Vgl. z.B. soeben die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, hier zit.n. „blick nach rechts“: https://www.bnr.de/artikel/aktuell-aus-der-zivilgesellschaft/neue-mitte-studie-beunruhigende-ergebnisse: „Wenn menschenfeindliche Vorurteile, rechtspopulistische wie rechtsextreme oder neurechte Einstellungen, Misstrauen und illiberale Demokratieeinstellungen verbreitet sind, erleidet die Mitte der Gesellschaft Verlust und die Demokratie wird instabil,“ so der Extremismusforscher Andreas Zick.

3 Ursprünglich hatte ich doch nur für meinen Geschichtsunterricht ein paar belastbare lokale Täterbiografien gesucht…

4 Abmayr, Hermann G. (Hg.): Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart
2009(1); Kißener, Michael/ Scholtyseck, Joachim (Hg.): Die Führer der Provinz. NS-Biografien aus Baden
und Württemberg, Konstanz 1997(1).

5 Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; vgl. auch Pohl, Dieter: Die Holocaustforschung und Goldhagens Thesen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 45 (1997), S. 1-48.

7 Zit. n. Abmayr 2009 (wie Anm. 1), S. 26. Vgl. Browning, Christopher: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993; Renz, Ulrich: Lauter pflichtbewußte Leute. Szenen aus NS-Prozessen, Köln 1989.

8 Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt 2005, S. 60 + S. 263.

9 Anspielung auf den Satz des Tacitus, er habe „sine ira et studio“, also „ohne Zorn und Eifer“ in behaupteter Neutralität vorgehen wollen. Demgegenüber sind die Ausführungen in der Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ grundsätzlich und bewusst als zivilgesellschaftliche Positionierung gegen rechtsextreme Geschichtsinterpretationen zu verstehen.